Vom Verschwinden der Leichtigkeit
In letzter Zeit ist mir schwindelig. Schau ich nach unten, schau ich nach oben, schau ich auf die Seite, geh ich ins Dunkle, geh ich ins Helle, im Liegen, im Stehen, im Sitzen, zuhause, im Büro, alleine, unter Fremden, ich kann meinen Blick und den Grund dafür nirgends festmachen.
Überlegungen zum jugendlichen „Leicht“ – Sinn und der unbemerkt und schleichend einkehrenden Schwere des Erwachsenenalltages.
Neulich, bei einer Fortbildung, stand ich auf einer Bühne. Grelles Licht starrte mir ins Gesicht, genauso wie zehn andere TeilnehmerInnen. Die Bühne war nicht wirklich befestigt und sobald ich mich bewegte, bewegte auch sie sich. Aber nicht nur diese Bewegung machte mir zu schaffen, es bewegte sich alles in meinem Kopf wie ein Wirbelsturm, ich konnte mich nicht mehr richtig konzentrieren oder fixieren. Aber nur gerade so schlimm dass ich bemerkte, da stimmt was nicht.
Ein paar Tage später wurde mir dann im Liegen extrem schwindelig. Im Liegen! Die Körperstellung, die sonst immer die Rettung bei allem war. Die Diagnose hieß harmloser Lagerungsschwindel, der nach zwei Wochen wieder verschwinden soll. Kristalle haben sich im Ohr gelöst und schwimmen herum, das Gehirn kenne sich nicht aus. Der heftige Schwindel ist auch verschwunden, aber dieses Gefühl alles bewege sich und ich schwebe mittendrin ungesichert hindurch, ist da.
Über Gesundheit spreche ich nicht so gern weil ich es da halte wie ein verletztes Tier: Ich ziehe mich zurück und leide. Niemand darf mir nahekommen oder gar mich fragen: „Gehts dir schlecht?“ Dann gehts mir gleich noch schlechter! Ich brauche Ruhe oder nur positive Energie. So, als wenn nichts wäre. Oder ein Kaninchen, dann gehts halbwegs.
Jedenfalls kamen mir in den letzten Tagen ein paar Videos von YouTuberInnen in den Weg. Junge Frauen, die mit relativ wenig Informationsgehalt großes Interesses hervorrufen. Ich bin ins Nachdenken gekommen. Damals, so mit 15, war ich auch so. So unbedarft, so oberflächenwitzig, so immer gut drauf, gibts ein Wort dafür? Ich hab andere immer zum Lachen gebracht und die Tage waren Abenteuer. Wenn ich jetzt mein Tagebuch von damals lese dann hab ich in kurzer Zeit relativ viel erlebt, ich frage mich wie ich das alles untergebracht habe. Alle 2 Monate eine neue Liebe, Schule, Schwimmmeisterschaften, Freundinnendramen, ging alles gleichzeitig. Eigentlich hätte mir damals schwindelig sein müssen in dem Durcheinander.
Jetzt fühle ich mich als würden 120 Kilo auf meinen Schulter lasten und das, was ich damals in einer Woche erlebt habe zieht sich jetzt über drei Monate und strengt an. Wann ist das passiert? Wann war dieser Punkt? Das kam so hintenrum, ich hab es nicht bemerkt. Ich springe nicht mehr aus dem Bett, sondern muss zuerst ein paar Übungen machen, dass ich nicht umkippe sobald ich aufstehe. Ich begegne dem Tag nicht mehr mit einem : „Hey, da bin ich!“ sondern gehe schon geduckt in die Haltung: Heute das und das und das und das und du MUSST das alles schaffen, dein Highlight wird heute sein dass du abends das Buch lesen kannst. Ist das eine Depression? Wenn ja, dann eine weit verbreitete Erwachsenendepression, weil so gehts nämlich einigen um mich rum und wir übertragen uns diese Vibes gegenseitig. Auch AutofahrerInnen die sich gar nicht kennen tauschen diese Vibes aus.
Und jetzt dieser Schwindel. Hat er damit was zu tun? Schwindel ist ja genau das Gegenteil von Schwere, er ist eine ständige Bewegung. Was bedeutet Schwindel? Nichts mehr ist sicher. Kontrollverlust. Das ist etwas, was ich mit aller Gewalt zu verhindern versuche. Er zwingt mich aber dazu. Ich kann meinen Blick scheinbar nicht mehr halten, erfasse nicht mehr das ganze Bild. Früher hab ich die Situation abgecheckt wie ein Luchs, jede Regung aufgenommen, was passiert als nächstes, wie muss ich agieren, reagieren? Jetzt, beim Autofahren fühl ich mich wie eine 80 jährige, vor allem wenns dunkel ist. Da ist es gefühlt Glück dass ich von A nach B komme. Ein Neurologe meinte das sei normal, ich werde älter und bei mir sei auch ganz viel Angst dabei.
Aber um was gehts da wirklich? Was will mir der Schwindel sagen? Muss frau vor Kontrollverlust wirklich so Angst haben?
Der Schwindel sagt mal sicher:
- Hör auf Listen zu schreiben
Dir selber und den anderen. Dinge erledigen sich, halte es aus, wenn es warten muss.
Dann sagt er:
- Hör auf deinen Körper
Bislang war es so: An einem normalen Arbeitstag ist das Allerwichtigste: Die Arbeit. ALLES andere kommt danach. Das heißt: ist dir schlecht, verdränge es, hast du Kopfweh, halte es aus, bist du traurig, dafür hast du keine Zeit, wäre eigentlich was anderes wichtiger … diese Frage stellt sich nicht, weil du Geld verdienen MUSST. Gehorche dem System, du selbst kommt erst weiter hinten. Davor kommt dann noch dein Sohn und dein Mann, die du versorgen musst. Danach erst, wenn keiner mehr was von dir will, nachdem du alle Emails und WhatsApp und Anrufe und Sms beantwortet hast, kannst du dich hinlegen und spüren, was mit dir los ist. Wenn dein Kopfweh inzwischen so groß ist dass du nur mehr nach unten schauen kannst und dir speiübel ist, sei nicht zimperlich, das kennst du ja, das Prozedere machst du öfters durch.
Das ist nicht richtig, das weiß ich selber. Auch das lange Sitzen ohne Aufzustehen vor dem Computer. Ich habe das Körperbewusstsein über die Jahre verlernt, es geht gerade noch bis zum Hals. Mein Kopf wiederum meldet mir dauernd: Geh schlafen. Geh raus. Verlasse die Situation.
Meine Antwort: Nein. Halte aus.
Das ist einfach nicht richtig. Aber kaum werde ich sagen können: Ich arbeite heute nichts, denn heute brauch ich Ruhe. Self employed people die mal eben da eine Stunde Yoga, da einen freien Nachmittag zum Wandern machen können, gehts denen besser? Die Arbeit wird deswegen ja nicht weniger, sie stapelt sich nur.
Weiters sagt der Schwindel:
- die Gesundheit wird weniger, deshalb setze sie jetzt auf die Nr. 1
Das hoffende Denken: „Ich bin ja noch jung, ich hab nichts!“ funktioniert auch nicht mehr wirklich. Ich sehe es ja an meinen Kaninchen. Ab einem gewissen Alter setzt das erste Wehwechen ein, irgendwas klappt nicht mehr so im Körper. Dann kommt das nächste dazu. So lange, bis eben zu viel nicht mehr klappt. Und mit 35 schlagen zwar ein paar noch die Hände über dem Kopf zusammen und rufen aus: „Na Mädchen, du bist ja noch so jung!“ aber denkt doch mal an die Steinzeit! Da wäre man mit 35 schon gestorben, ausrangiert, zu nichts mehr zu gebrauchen, das macht sich bemerkbar. Der Körper heilt nicht mehr so schnell, eine Nacht wach bedeutet 48 h komplettes Dahinsiechen (dazu braucht es nicht mal mehr Alkohol), der Rücken verzeiht einem gar nichts mehr. Schlaf wurde zu einem der besten Dinge, die es gibt, er ist nahezu heilig. Wenn man nicht mehr gesund ist hat man so viel verloren, vieles auch unwiederbringlich. Leider fällt dies erst auf, wenns so ist. Solange der Zahn noch heil ist und nicht schmerzt, ist einem die Wichtigkeit der Pflege nicht so bewusst.
Er sagt:
- Nimm gewisse Dinge nicht so ernst
Ha ha. Das kann er sagen. Aber wie soll ich das machen? Ich trainiere es im Strassenverkehr, bei anderen frustrierten Menschen die bei mir abladen wollen, bei Kritik und bei Dingen, die nicht so klappen und nicht so schnell, wie ich es mir dachte. Und oft klappt es auch. Aber: Wie soll ich es nicht ernst nehmen was mit den Tieren passiert? Mit unserer Umwelt? Wie kann ich das bitte nicht so ernst nehmen? Es geht dabei nicht um mich, nicht darum dass ich es nicht tragen kann, sondern dass ich es nicht stoppen kann und dass es ständig millionenfach passiert, zarte Wesen erfahren Gewalt. Ich nehme mich da nicht heraus. Ich fühle mich verantwortlich bis zum Schluss und wenn ich schon nicht viel tun kann, kann ich wenigstens drüber nachdenken, WAS ich tun kann, laut sein und informieren.
Manchmal blick ich schon auf den Typus durchs Bild springende YouTuberIn, die scheinbar nur über sich selbst nachdenkt. Es gibt ja auch zahlreiche Erwachsene die so sind und scheinbar, und ich schreibe scheinbar, ist deren Leben „leichter“. Ich weiß es nicht. Ich habe keine Wahl. Mir ist es nicht egal, es war mir nie egal und es wird mir nie egal sein. Ich kann es auch nicht auf die Seite schieben und als weniger wichtig empfinden. Solange ich noch denken kann (auch wenn schwindelig) denke ich an die Tiere und höre nie auf zu hoffen!
Nun gut, ich werde schauen was der Schwindel noch mit mir vorhat und was er mir beibringt. Ob ich ein bisschen Kontrollverlust ertrage. Wahrscheinlich ist es auch an der Zeit zu akzeptieren, dass man eben erwachsen ist und brüchig. Dass man aus gewissen Gefängnissen entkommt, aus anderen nicht.
Aber die Leichtigkeit, die möchte ich gerne trotz (m)eines schweren Herzens (in dem alle meine Lieben versammelt sind) wiederhaben, aber bitte auch Standfestigkeit. Wenn ich die Kontrolle nicht mehr habe und mich dem Schwindel hingebe, wäre ich wahrscheinlich schon gleich etwas leichter. Dahin will mich der Schwindel wahrscheinlich bringen. Wer weiß, wo ich da hin ~ fliege ~.